BEITRAG VON EX BUNDESRÄTIN MICHELINE CALMY-REY
Schweiz – Italien: enge und gute Beziehungen als gemeinsame Aufgabe
Die traditionell engen und guten Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien sind geprägt durch intensive wirtschaftliche, politische, menschliche und kulturelle Verbindungen, eine gemeinsame Sprache und häufige Besuche auf allen Ebenen. Das 150-jährige Jubiläum der Republik Italien im Jahr 2011 markiert gleichzeitig auch das 150-jährige Bestehen von diplomatischen, freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Das Nachbarland Italien ist seit Jahren der zweitwichtigste Handelspartner der Schweiz, wobei Italien regelmässig einen namhaften Überschuss erzielt (Handelsvolumen 2009: 34 Mrd. SFr., Handelbilanzüberschuss zugunsten Italiens 2009: +2,1 Mrd. SFr.). Italien ist der drittwichtigste Exportmarkt für die Schweiz und das zweitwichtigste Herkunftsland unserer Importe. Als achtgrösster Investor schafft die Schweiz mit Direktinvestitionen von 22 Milliarden Franken 78‟000 Arbeitsplätze in Italien. Umgekehrt werden aufgrund der 6 Milliarden Franken italienischer Direktinvestitionen 13'000 Personen in der Schweiz beschäftigt. Besonders eng ist der Austausch entlang der gemeinsamen Grenze, wo fast 50'000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien täglich in die Schweiz zur Arbeit kommen. Von den auf ihren Einkommen erhobenen Steuern stattete die Schweiz im Jahr 2008 rund 54 Millionen Franken zugunsten der italienischen Gemeinden im Grenzgebiet zurück. Die bedeutende Gemeinschaft der ständigen italienischen Wohnbevölkerung in der Schweiz, die insgesamt etwa 500'000 Personen umfasst (inkl. Doppelbürgerinnen und -bürger), sowie die rund 48‟000 Auslandschweizerinnen und -schweizer in Italien stellen eine wichtige Basis für die engen schweizerisch-italienischen Beziehungen dar. Bereits im 19. Jahrhundert war die Schweiz Zielland für zahlreiche italienische Emigranten. Der Niederlassungs- und Konsularvertrag von 1868 garantierte gegenseitig freien Zuzug und freie Niederlassung. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg stammte über ein Drittel aller Ausländer und Ausländerinnen in der Schweiz aus Italien; zwischen 1950 und 1970 waren es rund die Hälfte. Bis heute ist die italienische Kolonie die grösste Ausländergruppe in der Schweiz. Die Italienerinnen und Italiener in der Schweiz bringen sich in allen Lebensbereichen ein; sie sind Teil unserer pluralistischen Kultur geworden. Die Schweizer Kolonie in Italien ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls angewachsen. Italien verfügt weltweit über die meisten Schweizerschulen (Rom, Milano, Bergamo, Catania). Das zwischenmenschliche Element unserer Beziehungen kam zum Beispiel auch nach dem starken Erdbeben, das Anfang April 2009 die Provinz L'Aquila in den Abruzzen erschütterte, zum Ausdruck: Die Katastrophe löste in der Schweizer Bevölkerung tiefe Betroffenheit aus. Die Schweizer Glückskette konnte innerhalb von kurzer Zeit fast 2,6 Millionen Schweizer Franken Spendengelder für Nothilfe und Wiederaufbauprojekte in den betroffenen Regionen sammeln. Des weiteren spielen seit jeher die Alpen als Bindeglied zwischen dem Süden und dem Norden eine wichtige Rolle. Dem Ausbau der Alpenübergänge folgten 1882 der Bau des Gotthard-Bahntunnels und 1906 jener des Simplon-Bahntunnels, woran massgeblich italienische Arbeiter beteiligt waren: Wir schulden ihnen sehr viel. Auch heute bilden die im Ausbau befindlichen Alpentransversalen für Schiene und Strasse ein zentrales Element der Beziehungen zu unserem südlichen Nachbarland. Intensiv sind auch die kulturellen, wissenschaftlichen und bildungsmässigen Beziehungen zwischen unseren Ländern. Seit 1947 besitzt die Schweiz in Rom das «Istituto Svizzero di Roma», das sich dem Kultur - und Wissenschaftsaustausch widmet und über Antennen in Mailand ("Centro culturale svizzero") und in Venedig ("Spazio culturale svizzero") verfügt. Auf institutioneller Ebene besteht zur Intensivierung des kulturellen und akademischen Austauschs zwischen der Schweiz und Italien eine kulturelle Konsultativkommission („Commissione culturale consultiva italo-svizzera”). Ebenso wichtig für den kulturellen Austausch sind das 1950 gegründete "Centro di studi italiani" in Zürich und die zahlreichen Sektionen der "Società Dante Alighieri" in der Schweiz. Seit der Gründung der "Università della Svizzera italiana" 1996 lässt sich ein wachsender Strom von Studierenden und Lehrpersonen in die Schweiz beobachten. Heute studieren etwa 2'500 Personen aus Italien in der Schweiz, und über 1'750 italienische Professorinnen und Professoren sowie andere Lehrpersonen unterrichten an Schweizer Hochschulen. Das deutliche Nein der Tessinerinnen und Tessiner in der Abstimmung über die Verlängerung und Ausdehnung des freien Personenverkehrs am 8. Februar 2009 wird bei der Beziehungspflege und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit Italien als Nachbar regelmässig thematisiert. Insbesondere geht es darum, dass der Nutzen der bilateralen Verträge auf beiden Seiten der Grenze verspürt werden kann und einzelne, entgegenstehende Hemmnisse abgebaut werden. Die Schweiz erachtet es in diesem Zusammenhang als wichtig, die betroffenen Grenzkantone als wesentliche Akteure in der Politikgestaltung einzubeziehen und ihre Anliegen zu unterstützen. Bekanntlich lösten die italienischen Behörden eine eigentliche Steuerkontroverse zwischen unseren Ländern aus, als sie bei der Umsetzung der italienischen Steueramnestie im Herbst 2009 unangemessen vorgingen und sich gegen Schweizer Interessen richteten. Gerade in diesem Kontext ist es wichtig, dass wir unseren Dialog auf allen Ebenen aufrecht erhalten und intensivieren, um zu einem Klima zurückzufinden, das den historisch gewachsenen, freundschaftlichen und für beide Seiten wichtigen Beziehungen Rechenschaft trägt. Dazu sind wir alle – Politikerinnen und Politiker, Unternehmerinnen und Unternehmer, aber auch Bürger und Bürgerinnen – gefordert. Denn gute nachbarschaftliche Beziehungen sind nicht automatisch gegeben – sie wollen und müssen gepflegt werden.
Beitrag im Jahr 2010 veröffentlicht